Achtsam leben

 

Start

Achtsamkeit

Lebenswelt

Forschung

Literatur

Kurse

Kontakt & Datenschutz

Links

authentische Begegnung

Achtsamkeit in der Schule

GAMMA Weiterbildung

Kontemplative Bildung

Mindful Inquiry

 

 

 



Nils Altner: Der achtsame phänomenologische Dialog als verkörperte Inquiry

Im achtsamen phänomenologischen Dialog ergründet der Frager gemeinsam mit der befragten Person ihr inneres Erleben. Dabei stehen innerpsychische und körperliche Aspekte im Zentrum des Interesses. Durch ergründendes Nachfragen wird die bewusste Verkörperung innerer Erfahrungen im aktuellen Moment angestrebt. Das Absehen oder Ausklammern eigener Meinungen und Vor-Urteile v.a. seitens der fragenden aber auch der befragten Person und das bewusste Fokussieren der aktuell wahrnehmbaren v.a. körperlichen Phänomene (im Gegensatz zu Meinungen oder abstrakten Vorstellungen) weist Gemeinsamkeiten mit dem Erkenntnisprozess der philosophischen Schule der Phänomenologie auf. Die bewusste Konzentration auf gegenwärtig wahrnehmbare Phänomene im Gespräch ähnelt dabei auch dem Fokus auf den Moment während einer introspektiven Meditation (Patrick 1994).

Das Führen eines phänomenologischen Dialogs entspringt einer Haltung, die transformative Bildungs- und Entwicklungsprozesse anregen, zu Bewusstsein bringen und verstehen möchte. In diesem Sinne verstehe ich die Einladung zu einem phänomenologischen Dialog als Angebot einer empathisch verkörperten Begegnung, bei der die Aufmerksamkeit beider Sprechender vor allem auf die innere Erfahrung der befragten Person gerichtet ist. Die potentiell transformative Kraft eines solchen Dialogs speist sich aus der dialektischen Dynamik von Einsicht, Sein-Lassen, Benennen und Verwandlung, wie sie auch in der meditativen Introspektion einer Person in ihr eigenes Erleben wirkt. Mit dem phänomenologischen Dialog wird diese introspektive Dialektik in das Gespräch zweier Menschen übertragen. Damit stellen wir eine Methode der Sichtbarmachung von und Erkenntnisfindung zu Bildungsprozessen vor, die v.a. auf meditativen und introspektiven Erfahrungen und Entwicklungen beruhen.

Ähnlich wie der sokratische Dialog, aber stärker körperbezogen, kann der achtsame phänomenologische Dialog transformative innere Bewusstseinsprozesse zur Sprache bringen und damit stärken. Der amerikanische Entwicklungsforscher Robert Kegan (2006: 299) beschreibt die zugrunde liegende Erkenntnis so: “accurately empathizing with another person’s experience might be the most powerful driver for their taking the risk of making change”.

Die folgenden Leitprinzipien des achtsamen phänomenologischen Dialogs dienen dabei der fragenden Person als Orientierung und Schrittfolge für die Gestaltung einer wirklich achtsam verkörperten und explorierenden Dialogführung (vgl. Altner & Adler 2020):

Prinzip 1: Einen sicheren Rahmen setzen und innerlich bewusst auf das Miteinander-
Verbundensein einstellen
Prinzip 2: Nach den Phänomenen der Empfindungen fragen, geleitet von den eigenen        Empfindungen
Prinzip 3: Verlangsamen, fokussieren und vertiefend bei den gegenwärtigen Empfindungen  bleiben
Prinzip 4: Vertrauend beobachten, was auftaucht, Anspannung reduzieren, atmen und
warten
Prinzip 5: Versuchen, mit dem/der GesprächspartnerIn in ihrer/seiner Welt zu sein
Prinzip 6: Offen sein für die gemeinsame Erfahrung und sich ihr hingeben
Prinzip 7: Dankbarkeit ausdrücken
Prinzip 8: Stille willkommen heißen


In nächster Zeit werden hier Video-Beispiele für die Umsetzung der Prinzipien erscheinen.

Prinzip 3:
Verlangsamen, fokussieren und vertiefend bei den gegenwärtigen Empfindungen  bleiben

In diesem Interviewausschnitt spreche ich mit einer Kollegin, die im Solinger Schulprojekt Achtsamkeitskurse in den Schulen geleitet hat. Auf meine Frage nach Beispielen für Entwicklungen, die sie berühren, beschreibt sie die Veränderung einer Lehrerin. Diese war bislang in Stressituationen aus der Klasse gegangen, um sich zu regulieren. Im Achtsamkeitskurs hat sie gelernt, wie sie duch ein paar bewusste Atemzüge zu sich und in einen regulierteren Zustand findet. Das macht sie nun in der Klasse und vor den Kindern.
Die interviewte Kollegin sagt, sie findet das sehr "mutig. Durch Spüren meines eigenen Berührtseins beim Wort "mutig", durch Entschleunigung und Fokussieren auf das Erleben hinter "mutig" eröffnet sich ein berührender Prozess des sachten Selbsterkundens und -erkennens bei der Kollegin mit neuen Einsichten und Bildungsschritten.





Prinzipien 2-6: nach den körperlichen Empfindungen fragen, verlangsamen, einzoomen auf die gemeinsame Erfahrung und sich ihr hingeben

Hier ein Ausschnitt eines Interviews, das ich mit einem Schweizer Kollegen geführt habe. Ich frage ihn nach seinen Erfahrungen in einem von ihm organisierten Seminar für PädagogInnen, wo ich achtsame Körperübungen mit Inquiry Dialogen und theoretischem Input verknüpft habe. Ein schönes Beispiel für die Haltung und Form eines achtsam verkörperten und offenen Sprechens in pädagogischen Kontexten. Wichtig finde ich hier v.a. das empathisch langsame und sinnliche Einzoomen in die Tiefe der Erfahrung der Person, wo auch für sie neue Phänomene, Entdeckungen und Einsichten schlummern, die dann im Gespräch ans Licht des Bewusstseins steigen im Sinne einer existenziellen gemeinsamen Bildungserfahrung.




Den gemeinsamen Erfahungs- und Bildungsraum erleben

In diesem Interview einer Kollegin mit mir wird deutlich, wie die present-moment Anbindung des Sprechens an die achtsamkeitsgeschulte Körperwahrnehmung und die inneren Bilder einen tief empfundenen gemeinsamen Erfahrungs- und Bildungsraum eröffnet. Das erscheint mir wirklich neu und bedeutsam gerade auch vor dem Hintergrund transkultureller Bildung.
www.achtsamkeit.com/A&N_Kern&belebterRaum.mp4
www.achtsamkeit.com/A&N_Reflection.mp4


Nils Altner: Phänomenologische Dialoge nach Achtsamkeitspraxis
fördern die Entwicklung bei LehrerInnen


Während eines von den Ministerien für Bildung und Gesundheit des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen geförderten Modellprojekts wurden LehrerInnen in 20stündigen achtsamkeits- und mitfühlsbasierten Interventionen darin geschult, ihre Aufmerksamkeit in ihrem Körper und bei ihrem Atem zu halten für bis zu 45 Minuten. Nach jeder solchen Übung wurden sie von den KursleiterInnen gebeten, sich gegenseitig und dann der Gruppe zu beschreiben, was sie dabei wahrgenommen hatten. Nach einer solchen Dyaden-Übung, bei der eine Person drei Minuten lang aufmerksam zuhört, was die andere Person sagt, berichtet einer der Lehrer (T) der Kursleiterin (F):

T: "Ich sprach sehr gern und hätte noch viel länger sprechen können. Das kam mir sehr bekannt vor. Zuhören war jedoch etwas ganz anderes für mich."
F: "Wie war es, der Zuhörer zu sein? Was hast du erlebt?"
T: "Wie ich bereits angedeutet habe, war es für mich schwieriger zuzuhören als zu sprechen. Ich fand mich in meinen eigenen Gedanken wieder und verglich, was ich hörte, dauernd mit meinen eigenen Erfahrungen. Das habe ich noch nie bemerkt. Ich bin wirklich sehr überrascht (Pause), vielleicht sogar ein wenig bestürzt (Pause) als Lehrer (Pause). Ich werde das weiter beobachten! "

Der Lehrer beschreibt hier eine Entdeckung, die ihm einen neuen Einblick gibt, wie er anderen zuhört. Die Überraschung für ihn ist, dass, wenn er jemandem zuhört, ein großer Teil seiner Aufmerksamkeit auf das gerichtet ist, was sein eigener Verstand währenddessen zu sagen hat. Und er deutet an, dass er möglicherweise bestürzt ist über diese Entdeckung, weil das Bild, das er von sich selbst als Lehrer hat, sich von dem unterscheidet, was er jetzt wahrnimmt. Sich bewusst zu werden, dass man meistens in der eigenen mentalen „Ego-Tunnel“ -Aktivität beschäftigt oder „gefangen“ ist (Metzinger, 2009), kann gleichzeitig als beängstigend und befreiend empfunden werden. Auf dieser Schwelle zwischen der alten unbewusst identifizierten Phase und einer neuen bewussten Phase kann die Hebammenpräsenz von wirklich aufmerksamen Pädagoginnen sehr hilfreich sein. Robert Kegan (2006, 301) beschreibt das Sein an diesem Ort des transformativen Potenzials wie folgt: „… wenn wir nicht nur verstehen wollen, wo sich jemand jetzt befindet, sondern den Prozess des Wachstums und des Wandels unterstützen wollen, müssen wir wissen, was die Grenze ist. Was ist die Schwelle, über die die Person gerade tritt oder treten könnte?“. Und er fragt nach der Rolle des Begleiters oder der Vermittlerin: „Wie kann ich eine Beratungsbeziehung aufbauen, die als Brücke dient zwischen dem Ort, an dem sie waren, und dem Ort, an den sie gehen? Wobei zu berücksichtigen ist, dass eine Brücke gut auf beiden Seiten verankert sein muss."
Da Kursleitung und TeilnehmerIn sich möglicherweise in unterschiedlichen Entwicklungsstadien befinden, macht Kegan (S. 299) deutlich, wie wichtig es für den Kursleiter ist, die Erfahrungen des Klienten oder Studenten zu erfragen und zu erfühlen, weil „die Erfahrung dass sich jemand genau in die Erfahrungen einer anderen Person einfühlt, der stärkste Treiber sein kann, um das Risiko einzugehen, Veränderungen vorzunehmen…. Aber wenn KlientInnen nicht das Gefühl haben, dass die Kursleitung wenigstens einen Teil ihrer Erfahrungen so versteht, wie sie sie erlebten, dann haben sie einfach nicht das Gefühl, dass es genug Verbindungen gibt, um fortzufahren. "

Das Führen von Dialogen über die Erfahrungen, die die Schüler gemacht haben, während sie sich auf achtsame Übungen einlassen, wird am besten auf eine Weise gestaltet, die die eigene Sichtweise des Kursleiters vorübergehend ausklammert, um wirklich zuzuhören, einzufühlen und nach der Realität des Schülers zu fragen. Da dieses Ausklammern Ähnlichkeiten mit der phänomenologischen Ausklammerung vorgefasster Vorstellungen über ein bestimmtes Objekt von Interesse aufweist, nennen wir diese Art der Untersuchung „phänomenologischen Dialog“. Wenn aus dem Einblick in die Realität der befragten Person dann ein gemeinsamer Erfahrungsraum sich eröffnet hat, kann die fragende Person sich manchmal auch selbst in ihrem Berührtsein zeigen und einbringen. Indem sie sich der Erfahrung hingibt, eröffnet sie die Möglichkeit für eine wirkliche Begegnung. Das kann sehr berührend und zuweilen heilsam sein.


Beispiel eines phänomenologischen Dialogs

Im folgenden Beispiel eines solchen Dialogs befragte der Autor (N) eine der Kursleiterinnen (S) der Achtsamkeits- und Mitgefühlskurse, die an den Schulen in Solingen unterrichtet wurden, nach einer Erfahrung während der Kurse, die sie berührte. Während des Dialogs erhält (S) einen Einblick in ihre eigenen Überzeugungen, die sie dabei ist zu überwinden. Anhand dieses Beispiels werden einige Prinzipien für die Leitung solcher „phänomenologischen Dialoge“ identifiziert und diskutiert.

N: Wenn du in die Kurse zurückblickst - gibt es eine Geschichte, eine Person, eine Erfahrung, die für dich bedeutsam, bewegend und berührend war?
S: Ja, eine Situation, die mich sehr berührte, war, als eine Lehrerin sagte: "Früher, als ich mit den Kindern im Klassenzimmer war und über etwas sehr verärgert war, konnte ich das manchmal nur alleine lösen. Ich musste dann für einen Moment den Unterricht verlassen, auf die Toilette gehen, um mich zu fassen und konnte erst danach wieder in den Unterricht zu den Kindern gehen. Inzwischen erlaube ich mir, dass die Kinder mich beobachten und an diesem Prozess teilnehmen, wenn ich mich selbst reguliere (Pause), wie ich mich wieder ins Gleichgewicht bringen kann. Und dann sagen die Kinder etwas wie: „Ah, Frau XY atmet gerade.“ Die Kinder dürfen mir also zuschauen, wie ich eine Pause mache. Ich atme ein paar Mal tief durch und reagiere dann angemessen auf das, was zuvor geschehen ist."
Das hat mich sehr beeindruckt. Ich dachte, das ist sehr mutig von der Kollegin. Und das ist wirklich ein Geschenk, das sie den Kindern gibt. Weil es den Kindern ermöglicht, an diesem Prozess teilzunehmen und zu erkennen, wie sie damit umgeht.

N: Weil die Kinder jetzt ein lebendiges Beispiel dafür haben, wie sie sich auch selbst sich einen Moment Zeit nehmen können, wenn sie aufgeregt sind?
S: Genau, weil sie in diesem Moment ein wirklich großartiges Model ist. Sie sagt den Kindern nicht nur, wenn ihr euch in einer stressigen Situation befindet, dann könnt ihr dies oder das tun. Nein, sie erlaubt den Kindern, wirklich an diesen schwierigen Momenten teilzunehmen und sie als Vorbild zu beobachten. Das finde ich sehr beeindruckend.
N: Sie stellt sich auch dann zur Verfügung, wenn sie nicht im Gleichgewicht mit sich selbst ist.
S: Eine andere Situation, die ich ....

N: Moment mal, darf ich dich noch etwas zu diesem Beispiel fragen? Du sagtest, du fandst es sehr mutig von ihr, das zu tun. Was lässt dich dieses Wort ´mutig´ fühlen und benutzen?
S: Ich denke nur, sie wagt es, nicht sofort reagieren zu müssen. Das hängt wahrscheinlich auch mit mir selbst zusammen. Es hängt immer mit dir selbst zusammen, wenn du so berührt bist. Für mich persönlich ist es auch mutig, in manchen Situationen nicht sofort eine Reaktion parat zu haben, sondern den anderen zu zeigen, dass ich jetzt einen Moment brauche, um mich neu zu zentrieren, und erst danach kann ich agieren (Pause). Das erlebe ich als mutig.
N: Fühlst du dich in einem solchen Moment besonders verletzlich oder warum braucht es Mut?

S: Ja, ich habe das Gefühl, dass mein Bild von mir selbst zu sein scheint (Pause), dies wird mir gerade klar, dass ähm (auf der Suche nach Worten), wenn ich "kompetent" bin, ich dann immer sofort reagieren kann. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, merke ich, dass das totaler Unsinn ist. Aber anscheinend ist das ein Muster von mir. Ich glaube, dass Kompetenz durch die Tatsache gezeigt wird, dass ich sofort eine korrekte Reaktion zeigen kann. Das ist natürlich Unsinn.
N: Immer das Richtige bereit zu haben, also djumdjum, fast wie eine Maschine. (Pause)
S: Genau.

N: Kannst du beschreiben, was sich in dir geändert hat, dass es dir jetzt, genau wie der Lehrerin, möglich ist, diese Momente zu nutzen, um dich selbst zu finden und dich neu zu sammeln?
S: Zum Beispiel, wenn ich vor Leuten spreche und plötzlich den Faden verliere und mich neu konzentrieren muss. Wenn in einem solchen Moment Panik aufkommt, versuche ich jetzt, mich nicht selbst im Stich zu lassen, sondern mir selbst zu sagen, dass dies völlig in Ordnung ist, dass dies passieren kann. Ich versuche mich nicht mit meinem vorherigen Ich zu vergleichen, das nie solche Aussetzer hatte. (Pause) Dies ist ein Prozess, in dem ich mich gerade befinde. Und ich kann hier noch viel lernen.

N: Von dem, was du sagst, berührt mich das "Ich werde mich nicht mehr im Stich lassen" am meisten.
S: Ja, auch für mich ist das eines der wichtigsten Dinge, die ich im Rahmen der Achtsamkeitsmeditation gelernt habe. Ich kann jetzt alleine stehen und mich nicht im Stich lassen. Das habe ich in der Vergangenheit oft gemacht. Ich habe mich oft abgeschrieben, mich hart behandelt und sehr streng mit mir selbst umgegangen. Der Trend ist heute noch da, aber jetzt viel, viel weniger.
Kurze Stille
N: Mmmh, Sie teilen mir diese sehr persönlichen Erkenntnisse mit. Ich fühle mich geehrt und schätze sie als sehr wertvoll. Vielen Dank!

Ich spüre eine berührende Schönheit in diesen Momenten gemeinsamer Einsichten in das sehr persönliche „Lernen des Selbst“, wie Carl Rogers es nennt (1973, 447f.). Malte Brinkmann (2019, 34) spricht in seiner „pädagogischen Theorie des Verstehens aus der Perspektive der Verkörperung“ von „Momenten intensiver gemeinsamer Aufmerksamkeit“, wenn „die Praxis des Zeigens Teil eines inter-aufmerksamen Reaktionsereignisses ist“. Er identifiziert die Fähigkeit der oder des Pädagogen/in, etwas zu zeigen, während und indem er oder sie sich bewusst zeigt, als zentrale pädagogische Kompetenz.


Verkörperung und zwischenmenschliche Präsenz

Um zu verdeutlichen, was hier mit dem Begriff „Verkörperung“ gemeint ist, könnte die Unterscheidung von zwei „Sprachpositionen“ hilfreich sein, wie sie Claire Petitmengin beschreibt (2006, 257), eine prominente französische Forscherin für mikrophänomenologische Interviews:
• eine körperlose Äußerungsposition ohne direkten Bezug zur Erfahrung auf der Grundlage einer vagen Erinnerung an eine Erfahrung oder auf Basis eines Berichts über eine Erfahrung, von Überzeugungen oder Urteilen über eine Erfahrung;
• eine verkörperte Äußerungsposition, während die Person mit ihrer Erfahrung in direktem Kontakt steht.

Wenn (zwei) Menschen, deren Aufmerksamkeit im Kontakt mit den körperlichen Aspekten ihrer Erfahrung stehen, sich in einen verkörperten Dialog begeben, entstehen authentische Begegnungen und beide können sich gesehen sehen, während sie den anderen sehen. In diesem Sehen wird sich jede/r im Lichte der wohlwollenden, mitfühlenden Aufmerksamkeit der/des Anderen seiner oder ihrer selbst bewusst. Dieses Bewusstsein für sich selbst und die oder den Andere/n wird körperbasiert oder „verkörpert“ erlebt, weil beide dabei die somatosensorischen und Salienz-Netzwerke ihres Gehirns aktivieren (Lutz et al., 2015).


Achtsamkeitsbedingte Veränderungen im neurologischen Netzwerkengagement

Antoine Lutz et al. (2015) fassen die weitgehend MRT-basierten neurowissenschaftlichen Erkenntnisse über das Engagement neuronaler Netze während der Achtsamkeitspraxis zusammen. Gemäß ihrer Zusammenfassung besteht das Default Mode Network aus Hirnregionen um die vordere und hintere Mittellinie (hinterer cingulierter Kortex, PCC und Precuneus sowie innerhalb des medialen präfrontalen Kortex, mPFC), des lateralen parietalen Kortex und des medialen Temporallappens. Das Default Modus Netzwerk ist aktiv, wenn die Person ihre geistige Aktivität sich selbst überlässt. Dann finden regelmäßig wiederkehrende und selbstreferenzielle mentale Prozesse statt, die sich auf die Rolle des Selbst in der Vergangenheit und in der Zukunft konzentrieren und diese analysieren. Brewer et al. (2011) haben gezeigt, dass das absichtliche Verschieben in einen mentalen Zustand, in dem die Aufmerksamkeit auf aktuelle Momentempfindungen gerichtet ist, wie viele meditative Praktiken es veranlassen, das Default Modus-Netzwerk, insbesondere die Aktivität in der PCC, deutlich reduzieren.

Dann wird das sogenannte Salienz Netzwerk aktiviert. Es umfasst die bilateralen anterioren Insulae (aI) und den dorsalen anterioren cingulären Cortex (dACC) sowie die subkortikalen Strukturen der Amygdala und der Substantia nigra / ventralen Tegmentbereichs (SuN / VTA). Das Salienz Netzwerk ist aktiv, wenn die Aufmerksamkeit auf aktuelle Momentempfindungen gerichtet ist. Dies geschieht normalerweise und unbeabsichtigt aufgrund unerwarteter sensorischer Inputs, die für das „Erkennen emotionaler und belohnender Ausprägungen“ wichtig sind (Lutz et al. (2015, S. 21). Meditative Praktiken aber z.B. auch künstlerisches Gestalten senken die Wahrnehmungsschwelle für diese sinnlichen Momentempfindungen, indem Sie absichtlich die Aufmerksamkeit für sie erhöhen, sowohl in der Zeitlänge als auch in der Wahrnehmungstiefe.

Auf diese Weise wird das Central-Executive Network eingebunden. Nach Angaben von Lutz et al. besteht dieses "dorsale Top-Down-Aufmerksamkeitssystem" aus dem bilateralen dorsolateralen präfrontalen Kortex (DLPFC), dem ventrolateralen PFC, dem dorsomedialen PFC und dem lateralen parietalen Kortex einschließlich des rostro-lateralen PFC (BA10). Die Konzentration auf ein Objekt oder eine Aktivität durch Auswahl und Fokussierung der Aufmerksamkeit scheint die Hauptfunktion dieses Netzwerks zu sein.


Achtsame Sinnes- und Körperpräsenz beim Sprechen miteinander

Während des obigen Beispieldialogs wird sich S ihrer dysfunktionalen Überzeugung bewusst, dass Kompetenz die Fähigkeit beinhaltet, sofort Lösungen für auftretende Probleme zur Hand zu haben. Beide Dialogpartner sind darin geschult, auch im Gespräch mit einer anderen Person achtsam präsent zu sein, und können sich des Inhalts dieser Glaubensüberzeugung bewusst werden, ohne sich damit identifizieren zu müssen. Zu Beginn des Austauschs bietet N das Wort „berührt“ an, wenn er nach Beispielen fragt, welche Entwicklungen S für relevant befunden haben. Daraufhin beginnt sie über die Lehrerin zu sprechen und wie berührt sie ist, wenn sie sich den Kindern zeigt. N formuliert dies mit eigenen Worten und validiert es damit auf der Grundlage seiner eigenen Empfindungen, während er S zuhört, wodurch eine vertrauensvolle Beziehung hergestellt wird. Als S anfängt, über etwas anderes sprechen zu wollen, stoppt N sie und verlangsamt damit den Prozess, indem er sie fragt, ob sie daran interessiert sein könnte, hier genauer hinzuschauen. N bringt den Fokus dann zurück auf den Punkt, als S sagte, dass sie die Lehrerin, die sich den Kindern auch zeigt, wenn sie aufgeregt ist und ihr Gleichgewicht wiedererlangt, als „sehr mutig“ erlebt. N wird hier von seiner eigenen körperlichen Empfindung einer viszeralen Resonanz auf S' Selbstoffenbarung geleitet. Seine eigene Erfahrung, davon tief berührt zu sein, nährt seine Intuition, dass hier möglicherweise eine Entdeckung oder Einsicht wartet.

Er bleibt bei dieser Empfindung und fragt, warum sie dieses Wort „mutig“ fühlt und benutzt. S beginnt jetzt über sich selbst zu sprechen. Sie beschreibt, wie es „Mut erfordert, in manchen Situationen nicht sofort eine Reaktion parat zu haben, sondern den anderen zu zeigen, dass ich jetzt einen Moment brauche, um mich neu zu zentrieren, und erst dann reagieren kann“. N wird bewusst, dass mit dem, was er sie sagen hört, das Thema „Verwundbarkeit“ für ihn auftaucht. Und er fragt bei ihr nach, ob dies auch für sie gilt, ob dies ihre Realität einfängt. Sie stimmt zu und beide teilen nun die Erfahrung, „in derselben Welt zu sein“. Dann beschreibt sie die Erkenntnis, die sie gerade macht, darüber wie sie sich von der internalisierten Forderung befreien kann, dass sie „sofort eine korrekte Reaktion zeigen muss“, um ihre Kompetenz zu beweisen. N vergleicht diesen Begriff der quasi automatischen Reaktivität mit einer Maschine. S stimmt zu und zeigt an, dass beide immer noch die gleiche Realität teilen.

N erkundigt sich nun weiter nach den Phänomenen ihrer Empfindungen, indem er fragt: „Kannst du beschreiben, was sich in dir verändert hat, dass es dir jetzt, genau wie der Lehrerin, möglich ist, diese Momente zu nutzen, um dich selbst zu finden und neu zu sammeln?“ . Auf diese Weise zeigt er, dass er weiterhin sein Salienz-Netzwerk engagiert und interessiert und offen für das ist, was sie zu sagen hat, anstatt in den Standardmodus der kognitiven Netzwerke zu wechseln, indem er interpretiert, analysiert, beurteilt oder theoretisiert, was er verstanden hat. S bringt nun ihr Beispiel, wie sie während einer öffentlichen Rede den Faden verliert, Panik bemerkt und sich bewusst dem Reflex enthalten kann, sich selbst im Stich zu lassen, indem sie mitfühlende Selbstbestätigungen wie „das ist völlig in Ordnung,… das kann jedem passieren“ verwendet. N teilt hier wieder seine viszeralen Resonanzen, von ihrer Einsicht berührt zu werden, „sich nicht im Stich zu lassen“. Auf diese Weise zeigt sich auch er in dieser Hinsicht verletzlich und gibt sich dieser gemeinsamen Erfahrung hin. Eine Alternative wäre, seine Deckung zu bewahren, indem er sich die Erfahrung vom Leibe hält, ihn zu berühren, oder indem er die Tatsache verbirgt, dass er sich berührt fühlt. Stattdessen teilt er dies mit S und sie fühlt sich weiterhin eingeladen, sich auch mit ihren jüngsten Entdeckungen zu zeigen: „Ich habe mich oft im Stich gelassen, mich hart behandelt und bin sehr streng mit mir selbst umgegangen. Der Trend ist heute noch da, aber jetzt viel, viel weniger. “ N lässt dann einen Moment „edler“ Stille zu, der die kostbare Erfahrung der gemeinsamen Menschlichkeit einrahmt, die beide jetzt teilen. Dann drückt er seine Dankbarkeit aus und dankt S für ihr Vertrauen.

Das Halten der Aufmerksamkeit in der physischen Gegenwart der verkörperten Resonanzen, die während des Gesprächs auftreten, und das Offenhalten des Geistes für die dabei hervortretenden sensorischen Phänomene, anstatt sich auf körperlose mentale Aktivitäten einzulassen, kennzeichnen diese Praxis achtsamer phänomenologischer Dialoge. Diese Praxis schafft den Raum, den Fokus, die Sicherheit und den Anlass für S, um ihren dysfunktionalen, sie einschränkenden Glaubenssatz und die daraus resultierenden lange gewohnten Haltungen und Handlungen genau zu betrachten. Zusammen mit ihrem Dialogpartner kann sie diese als „Unsinn“ identifizieren und sich davon distanzieren. Während dieser Glaube bis dahin unbewusst Teil ihrer Selbstidentität war, kann sie ihn jetzt bewusst betrachten und beginnen, sich davon zu befreien.

Das Beispiel dieses Dialogs zeigt, dass sich die Entwicklung dessen, was im Sinne eines bewussten Meta-Bewusstseins für Inhalte des eigenen Bewusstseins entwickelt wurde, am besten im Dialog mit einer vertrauensvollen mitfühlenden Person entfaltet, die in verkörpertem Kontakt mit sich steht und dabei wirklich und authentisch an uns interessiert ist. Dies entspricht der Essenz von Martin Bubers Einsicht: „Ich werde ich mit dir“ (Muth, 2007, 21). In pädagogischen Kontexten kann die Schaffung von Bedingungen für solche transformativen Begegnungen als grundlegende Fähigkeit des Handels angesehen werden, wenn unter Bildung auch eine „Bildung“ des Selbst verstanden wird.

Die folgenden Prinzipien der achtsamen Inquiry als phänomenologischer Dialog können die Ausbildung und Stärkung dieser Kompetenzen leiten:

Prinzip 1: Den Rahmen setzen und innerlich bewusst auf das Verbundensein einstellen
Prinzip 2: Nach den Phänomenen der Empfindungen fragen, geleitet von den eigenen Empfindungen
Prinzip 3: Verlangsamen, fokussieren und bei den gegenwärtigen Empfindungen bleiben
Prinzip 4: Beobachten, was auftaucht, Anspannung reduzieren, atmen und warten
Prinzip 5: Versuchen, mit dem/der GesprächspartnerIn in ihrer/seiner Welt zu sein
Prinzip 6: Offen sein für die gemeinsame Erfahrung und sich ihr hingeben
Prinzip 7: Dankbarkeit ausdrücken
Prinzip 8: Stille willkommen heißen

In kommenden Veröffentlichungen werden diese Grundsätze und ihre Anwendung im Bildungsbereich eingehend erörtert.

Literatur
Brauer J A, P D Worhunsky, J R Gray, Y Y Tang, J Weber und H Kober (2011). Meditationserfahrung ist mit Unterschieden in der Netzwerkaktivität und Konnektivität im Standardmodus verbunden. Proc Natl Acad Sci USA 108 (50): 20254-20259.
Brinkmann M (2019) Verkörpertes Verständnis in pädagogischen Kontexten. In: Brinkmann M, Türstig J, Weber-Spanknebel M (Hrsg.) Leib - Leiblichkeit - Embodiment. Pädagogische Perspektiven auf eine Phänomenologie des Leibes. Wiesbaden: Springer, 2019.
Kegan R, Eriksen K (2006) Subjekt-Objekt-Theorie und Familientherapie. The Family Journal: Beratung und Therapie für Paare und Familien. 14 Nr. 3, Juli 2006 299-305, DOI: 10.1177 / 1066480706287795 301
Lutz A, A P Jha, JD Dunne und CD Saron (2015). "Untersuchung der phänomenologischen Matrix achtsamer Praktiken aus neurokognitiver Sicht." Am Psychol 70 (7): 632; 658.
Metzinger T (2009) Der Ego Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Berlin Verlag.
Muth C (2007) Heilende Chassidische Geschichten. Wuppertal: Peter Hammer Verlag.
Rogers C (1973) Die klient-zentrierte Gesprächstherapie. München: Kindler.

Dieser Text ist Teil des Papiers: Nils Altner & Bettina Adler (2020): Wirklich präsent sein: Verkörperte achtsame Kommunikation und phänomenologische Dialoge fördern die intra- und interpersonellen Lebenskompetenzen im Bildungsumfeld. In: Iwers T (Hrsg.) (2020) Tagungsband zur Ringvorlesung „Forschen in eigener Sache: Achtsamkeit in der Pädagogik“ an der Universität Hamburg im Frühjahr 2019, im Druck.





                                     

                         www.achtsamkeit.komm